Hannover
Als ich aus meinem Halbschlaf erwache, trifft unser Zug gerade in Hannover ein.
Mein Gott, Hannover! Ich meine – ich habe in meinem Leben so einige Fehler begangen. Natürlich bereue ich so manches oder würde heute einiges anders machen. Aber jetzt werde ich bald sterben und kann sagen:
Ich bin froh, niemals in meinem Leben in Hannover gewesen zu sein. Dabei ist das ja gar nicht mal so unwahrscheinlich, wenn man, wie ich, in Hamburg gelebt und regelmäßig die daheimgebliebenen Verwandten in Süddeutschland besucht hat. Stellen Sie sich mal vor, vielleicht hätte ich jemanden kennengelernt, der vielleicht Verwandte in Hannover gehabt hätte und der mich zu seinen Verwandten… Schrecklich, allein die Vorstellung davon! Aber zum Glück ist das ja nie passiert. Und es wird auch nicht mehr passieren, denn ich ich werde ja bald sterben. Wieso, werden Sie sich jetzt fragen? Also wieso ich sicher bin, dass ich bald sterbe, oder wieso ich so froh darüber bin, niemals in Hannover gewesen zu sein?
Die erste Frage ist sicherlich schneller beantwortet: Ich bin schon ziemlich alt, eine ziemlich alte Frau. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, noch habe ich weder eine Vorahnung, dass ich bald sterben werde, noch eine Sehnsucht nach dem Tod, sodass ich meinem Leben bald selbst ein Ende setzen werde. Aber ich weiß einfach , dass ich bald sterben werde, und das beruhigt mich.
Als ich klein war, wollte ich immer alt sein. “Jaja, die Großen, die haben ihr Leben schon hinter sich!”, dachte ich mir damals immer. “Auf die wartet kein Abenteuer mehr, keine Prüfung, keine schwere Entscheidung.” Und jetzt, da ich quasi schon im Sterben befindlich bin, genieße ich diese Ruhe sehr. Im Sterben deshalb, weil ich eigentlich schon damit aufgehört habe, zu leben. Zu planen, zu hoffen, mich zu fürchten. Ich warte auf den Tod, und darüber freue ich mich.
Ist das nicht eigenartig? Dass sich mein Leben jetzt nur noch auf meinen Tod richtet? Aber ich schweife ab. Wieso ich zum Glück nie in Hannover gewesen bin, wollten Sie wissen. Tja, das ist jetzt doch keine so leichte Frage, wenn ich nochmal genauer darüber nachdenke. Für mich ist es einfach schon immer klar gewesen, dass ich niemals nach Hannover gehen würde, seitdem ich das erste Mal daran vorbeigefahren bin.
In meinen späten Zwanziger Jahren muss das gewesen sein. Da musste ich einmal in Hannover umsteigen, aber das zählt ja nicht wirklich, denn am Bahnhof ist man ja noch nicht richtig in der Stadt, das ist ja eigentlich ein Nicht-Ort, eine Utopie. Da stand ich am Bahnhof und dachte mir: “So hast du dir doch eigentlich Bonn vorgestellt!”, mit diesem VW-Turm und den ganzen Gebäuden. Alles in grau, alles so gewerblich, alles so wirtschaftsfreundlich.
Hannover, das ist Deutschland. Das deutscheste Deutschland, das es gibt. Nicht Berlin. Nicht Bayern. Nicht Bonn. Nein: Hannover. Hier spricht man das durchschnittlichste Deutsch. Hier stehen die durchschnittlichsten Bahnhofsgebäude. Hier leben die durchschnittlichsten Leute. Ich wäre froh, wenn es diese Stadt nicht gäbe. Ich stelle mir diese Stadt so schlimm vor. Wie es dort wohl aussieht? Bestimmt furchtbar. Ich stelle mir Hannover schlimmer als den Tod vor. Aber den Tod stelle ich mir, wie gesagt, schön vor. Hannover stelle ich mir so vor, wie es sein muss, wenn man tot ist und doch noch leben muss. Ein totes Leben.
Oder kommen Sie etwa aus Hannover? Haben Sie etwa auch dort Verwandte, zu denen Sie mich hätten einladen können? Tue ich Ihnen mit dieser Beichte wohl jetzt Unrecht?
Wie, Sie meinen, ich sollte mal selber nach Hannover kommen? Um mir selbst ein Bild zu machen? Aber was wird dann aus meinem Lebenstraum? Aus meiner großen Errungenschaft, nie in meinem Leben nach Hannover gegangen zu sein? Was, Sie meinen, ich sollte das noch in meinem verbleibenden Leben bewerkstelligen?
Ein Mal nach Hannover zu gehen?
Aber was wird dann aus meiner Todesruhe?
Jetzt fürchte ich mich wieder…
Ich habe Angst!