„Was bin ich?“, fragen wir uns alle Tage, jedes Jahr und immer wieder. Auch ich frage mich natürlich manchmal, wer oder was ich bin und wo ich herkomme. Und manchmal hilft ja ein Blick auf die eigene Familie, um wenigstens zu ahnen, was man denn sein könnte – oder auf keinen Fall sein will, je nachdem.

Grund genug für mich, mal wieder nach Hause zu fahren (den „eigentlichen“ Grund, Weihnachten, wollen wir jetzt mal verschweigen, bzw. ich).

I bims! Aber was bims I eigentlich?

„Wer bin ich?!!“, schrie ich demnach auch meine Eltern am Weihnachtsabend wutentbrannt und ohne jegliche Vorwarnung an. Meinem Vater blieb fast der Klos im Halse stecken, so sehr hatte ich ihn damit überrascht.

„Ha…du bisch mein Sohn!“, erwiderte er mir nach einigen Momenten unbehaglichen Schweigens und aß die Klöse weiter. Sie schmeckten sehr gut, aber die Soße war etwas sehr salzig, die muss mein Bruder nächstes Jahr besser machen.

„Und woher habe ich dann meinen Kunstdrang?“, erwiderte ich ihm beleidigt. Mein Vater schwieg und malmte die breiigen Klöse.

„Dein Vater ist doch Landartist, Sohn“, gab meine Mutter zu bedenken.

„Wusstest du das nicht, Bruder?“, fiel mein Bruder ein, während er sich Soße auf sein Rehrückenstück träufelte. Wir sind nicht besonders kreativ, was unsere Anredeformen angeht; es ist alles eher funktional.

„Ne…wusste ich nicht, Bruder!“, gab ich schüchtern zurück. Wie konnte mir das entfallen sein?

„Ja…kann ich dann mal was von dir sehen, Vater?“, bohrte ich nach, nachdem ich meinen Mund mit einem Schluck Lemberger-Trollinger befeuchtet hatte. Die Soße war wirklich salziger als eine schwäbische Bräzzl. Sonst kocht mein Bruder aber wirklich erstklassig.

„Haja“, gab mein Vater zurück, ohne mich anzusehen. Er hievte sich gerade einen weiteren Klos auf seinen Teller.

„Morgen ganget mr uffs Stückle, na zeig I dir des!“, sagte er. (Übersetzungshilfe: „Morgen gehen wir in den [unweit des eigenen Hauses, aber nicht direkt daran befindlicher, mit verschiedenen Gerätschaften bestückter, eher weniger der Zierde, dafür der außerberuflichen Arbeit dienender] Garten.“

Gesagt, getan. Zwei Wochen später starteten wir. Zuerst musste sich mein Vater jedoch richtig bekleiden. Außerdem bat er mich, eine mysteriöse, äußerst schwere Tasche mit zum Auto zu schleppen.

Dressin‘ up. Mein Vater im Pre-Atelier
Das mysteriöse Säckle wird befüllt.

Wir setzten uns ins Auto, starteten den Motor, SWR 1 erklang, und wir fuhren los.

Songtipp: „Chris Raea – Road to Hell“ oder „Journey – Don’t stop believing“

Wir verließen unsere Heimatstadt. Die bräsige, winterliche Landschaft zog an uns vorbei. Wälder, Täler, Eisenbahnbrücken. Wir verließen die Zivilisation. Bald waren wir umringt von unbarmherziger Natur, schonungslos den urweltlichen Naturgewalten unterworfen (schwäbische Einöde). Dort befand sich das künstlerische Refugium meines Vaters, sein Atelier, seine Galerie: unser Stückle.

Und obschon ich dort unzählige Male in meiner Kindheit und späten Adoleszenz verbracht hatte (#Vaterschnaps), war es mir, als betrete ich eine neue Welt, ein neues Reich, ein neues Stück Familiengeschichte. Das Wort „Landartist“ donnerte in meinem Gehirn wie ein niemals verhallendes Echo in einem großen Canyon.

Sofort fing ich auch schon an, seine Kunstwerke zu bewundern, und – nur für euch, liebe Fans – zu fotografieren.

Hier seht ihr die schönsten Teile:

Stone Throne. Verschiedene Steine. Jahr unbekannt. (C) W.H.
Grab des unbekannten Eimers. Plastik und Pflastersteine auf Asche. Jahr unbekannt. (C) W.H.
Pink Doggo. Plastik, Eisen und Stein. Jahr unbekannt. (C) W.H.
Surrender to the Peacefulness of Nature. Verschiedene Materialien. Jahr unbekannt. (C) W.H.
Unbenannt. Steinplatten. Jahr unbekannt. (C) W.H.
Stairchair. Emaillierter Stahl, Kirschbaum. Jahr unbekannt. (C) W.H.

Ich war überwältigt. Mit einem Mal war mir klar, woher ich meine künstlerische Ader hatte, wieso ich mich freitagnachts mit solchen Texten herumquäle, und überhaupt und sowieso. Doch dann geschah das Unfassbare:

„Jetzt holsch mal des Säckle aus’m Audo“, sagte mein Vater. „Du musch mr a møl helfæ.“

Konnte das wahr sein? Mein Vater weihte mich in seine Kunst ein. Ich durfte Teil seines Werks werden!

Mit zitternden Händen (Winter) schleppte ich den schweren Sack aus dem Kofferraum und bereitete ihn vor dem Meister aus. Natürlich durfte ich selbst nicht Hand anlegen – aber allein schon die Tatsache, dass ich ihm dabei zusehen durfte, erfüllte mich mit Stolz. Nur für euch, meine Fans, habe ich diesen Moment dokumentiert:

Diese Steine waren also in der Tüte (ich habe außerdem gelogen – ich habe die Tüte im Kofferraum gelassen).

Präzision ist gefragt.

Stück für Stück setzte sich das neue Kunstwerk zusammen.
Lensflare, hell yeah.

Nach und nach nahm das Kunstwerk Form an. Und dann geschah es: Ich durfte doch mitmachen – beziehungsweise, ihm assistieren.

Der Künstler vor seinem Werk.
Die steinerne Fähre. Marmor auf Morast. (C) 2017 W.H.

Das Kunstwerk war fertig. Und ich weiß jetzt endlich, was ich bin: 
Schriftsteller

Denn diese Geschichte ist frei erfunden. Ausgedacht. Kreiert, um euch für ein paar Stunden (wenn ihr sehr langsam lesen solltet) zu unterhalten.(In Wahrheit gab es am Weihnachtsabend nämlich Raclette).

In Liebe,

Ihr Jonathan Frakes.